Risikomanagement: Risiko vs. Ungewissheit

Man kann sichere und unsichere Zukunftszustände unterscheiden. Unsichere Zukunftszustände lassen sich wiederum in zwei Gruppen einteilen: Risiko und Ungewissheit.

Als „Risiko“ werden alle bekannten, weil für möglich gehaltenen, und damit kalkulierbaren, Zukunftszustände bezeichnet. Risiken sind in dem Moment „bekannt“, in dem sie gedacht werden. Bei komplexen Systemen, und das sind vor allem sämtliche Zusammenhänge, in denen Menschen mitwirken, ist größte Vorsicht im Umgang mit solchen Wahrscheinlichkeitsberechnungen und Prognosen angebracht. Viele Unfälle basieren auf einer Interaktion von Faktoren, die niemand vorher bedacht hat. Das Unvorstellbare ist passiert! Für etwas, an das niemand gedacht hat, für etwas, das unvorstellbar war, gibt es keinen Eintrag in ein Risikoregister und damit auch keine Vorbeugemaßnahme.

Bei jedem unvorhergesehenen, unerwünschten Ereignis tappen die Unternehmen in die Falle, eine neue Regel, eine neue Anweisung, ein weiteres Risiko-Register einzuführen, um für das nächste Mal besser gewappnet zu sein. Das Problem ist aber, dass es exakt die gleiche Konstellation kein zweites Mal geben kann. Das konventionelle Risikomanagement nährt eine fatale Illusion, nämlich dass alles mit technisch-organisatorischen Maßnahmen in den Griff zu bekommen ist.

Ungewissheit bzw. Überraschungen sind ihrer Natur gemäß unvermeidbar. Wenn etwas unvermeidbar ist, ist man gut beraten, es zu akzeptieren und zu lernen, damit umzugehen. Die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und sie durch Zugriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen, als Anlass für Entwicklungen zu nutzen, wird in der Psychologie als Resilienz bezeichnet. In der Wirtschaft spricht man von resilienten Organisationen. Eine Organisation, die mit Überraschungen gut umgehen kann, in Krisensituationen handlungsfähig bleibt und aus Krisen lernt, ist resilient. Pläne, Vorgaben, feste Regeln stehen der Entwicklung von Resilienz im Weg.

Ein auf Compliance gedrilltes Managementsystem bzw. Unternehmen kann mit Ungewissheit, mit Überraschungen nur schlecht umgehen.

Was also wirksam ist, um (bekannte) Risiken zu bewältigen, erweist sich für den Umgang mit Ungewissheit als hinderlich. Ein Dilemma.

Mit dem Ansatz des risikobasierten Denkens kann dieses Dilemma „aufgelöst“ werden.

Der Ansatz des risikobasierten Denkens

Der Ansatz und die Intention des risikobasierten Denkens sind im Anhang A4 der ISO 9001:2015 klar beschrieben. Eine Kernaussage möchte ich hier aufführen und reflektieren:

Unter Berücksichtigung von Risiken und Chancen können Vorgaben für Tätigkeiten teilweise reduziert und durch Zielfestlegungen ersetzt werden. Dadurch ergibt sich eine höhere Flexibilität bei Prozessvorgaben, Dokumentation und Verantwortung als in der ISO 9001:2008 Norm.

Befürworter von Selbstorganisation, Abbau von Hierarchien und Bürokratie werden in diesem Satz eine Goldgrube sehen. Man könnte die Aussage des Satzes verständlicher formulieren: Überlass es den Mitarbeitenden, wie sie zum Ziel kommen und baue auf ihr Verantwortungsbewusstsein und ihre Kompetenzen. Nur so kannst Du darauf vertrauen, dass der Mitarbeitende auch bei Überraschungen handlungsfähig bleibt und angemessene Entscheidungen trifft.

Der Ansatz des risikobasierten Denkens unterstützt somit auch den Umgang mit Ungewissem. Ein bedeutender Vorteil, gegenüber dem konventionellen Risikomanagement.

Autor: Ralf Kohlen

Unsere Schulungen und Weiterbildungen zu diesem Thema: Risk Manager - TÜV (tuvsud.com)

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